(Von Christian C. Fernando) Eine angemessene Abgrenzung, d.h. öfter Nein sagen, ist nicht einfach. Zumal wir ein Volk von Ja-Sagern sind. Nein sagen ist bei uns nicht so verbreitet. Oft nicht salonfähig. Und meist auch gar nicht erlaubt. Es ist echt nicht einfach, sich abzugrenzen und Nein zu sagen.
Wenn wir in unsere sozialen Strukturen schauen, so erkennen wir, dass NEIN sagen eigentlich nicht zur Stärke unserer Kommunikationskultur gehört. Es gehört noch nicht solange zur Selbstverständlichkeit, NEIN sagen zu dürfen – wenn überhaupt.
In dem Kulturkreis, in dem ich aufgewachsen bin, hatte ich als junger Mensch keine Berechtigung, meine Bedürfnisse einzubringen, geschweige denn zu etwas NEIN zu sagen. Ich merke, ich bin kein Einzelfall.
Manchmal liegen in meinen Coaching-Gesprächen Themen auf der Werkbank, die schier unlösbar erscheinen. Und ich frage dann, ob es möglich sei, hier auch mal NEIN zu sagen. Fast immer wird das verneint. Angst, den Job zu verlieren! Angst die Gunst des Mitmenschen zu verlieren. Angst plötzlich alleine dazustehen. Angst als Egozentriker angesehen zu werden.
Die Alternative ist dann halt, immer JA zu sagen. Doch dies widerspricht häufig den inneren Werten. Oder wir sehen hinter dem JA keine Sinnhaftigkeit. Oder wir machen uns darüber gar keine Gedanken und sind einfach plötzlich genervt und frustriert.
Und so leben wir über lange Zeit in diesem Zwiespalt, echt zu sein, nach unseren inneren Werten zu handeln. Oder eben angepasst zu sein und unsere Intuition zu überhören. Das rächt sich auf Dauer. Es zerstört unsere Lebensqualität und auch unsere Selbstbestimmung. Sensible Menschen werden das kennen. Und sie leiden manchmal darunter, weil solche Situationen einem den Schlaf rauben.
3 Risiken, wenn ich nicht lerne, NEIN zu sagen
Unsere eigene Intuition zu unterdrücken oder zu vernachlässigen stürzt uns in die Fremdbestimmung. Und das ist nicht der Ort, wo ein sinnerfülltes, rundum stimmiges Leben stattfindet.
1. Überlastung in Kauf nehmen
Nicht NEIN zu sagen, wenn es nötig ist, führt oft zu Überlastung. Später sogar zur Erschöpfung. Wir alleine sind in der Lage, zu erkennen, wann es genug ist. Wir merken oft schon zeitig, wenn es zu viel ist. Das ist anscheinend eine Herausforderung besonders für sehr sensible Menschen. Sie sind es gewohnt, zuverlässig und speditiv zu arbeiten. Und man kann sich auf sie verlassen. So schaufeln sie sich immer wieder Berge von Arbeit, die nahezu übermenschlich sind. Willst du das?
2. Meine Zeit für das Wesentliche kannibalisieren lassen
Da kommt Helga zu einer Coaching Session. Sie ist unzufrieden, weil sie sich Zeit für alles andere nimmt, nur nicht für das, was ihr zutiefst wichtig ist. Sie möchte sich in Themenstellungen vertiefen, die sie und ihr Unternehmen weiterbringen. Für das wurde sie schließlich ja auch angestellt. Aber andere Anliegen, die an sie herangetragen werden, sind gerade wichtiger – in den Augen des Auftraggebers. Und so manövriert sich Helga zwischen die Mühlsteine, die ihre Eigenmotivation und ihr inneres Feuer zermahlen. Ihr eigener Antrieb bleibt auf der Strecke.
Oft ist nur noch die Kündigung ein Ausweg.
Aber, dies wird sich bei der nächsten Arbeitsstelle bald wieder ähnlich zeigen. Dieses Spiel wird solange gehen, bis sich der Selbstwert von Helga auf einem Niveau einpendelt, auf dem sie sich ebenso wichtig nimmt wie die Anliegen der Menschen aus ihrem Umfeld.
3. Heiß laufen – Eigene Ressourcen vernachlässigen
Sonja ist eine alleinerziehende Mutter von drei bald erwachsenen Jugendlichen. Sie hat sich seit 20 Jahren für sie eingesetzt, als Mutter und als Ernährerin. Seit einigen Jahren arbeitet sie in einem kleinen Unternehmen. Sie leitet ein Team, macht den Verkauf, ist für die Produkte zuständig und bildet eigene Leute und Kunden aus. Wöchentlich kommen neue Aufgaben dazu – alles kein Problem.
Aber Sonja ist gestresst, müde, kann schlecht schlafen und reibt sich in der Arbeit auf. Ihren Kindern fällt auf, dass sie gereizt ist – inzwischen ist ihre Haut dünner geworden. Sie arbeitet nur noch und fällt dann abends und am Wochenende in ein Koma, wo sie nichts mehr machen mag. Es ist einfach zu viel.
Die Chefin des Unternehmens weiß, was sie an Sonja hat. Aber aus mangelnder Empathie merkt sie nicht, wie sie Sonja mit ihrem Führungsstil in den Burnout treibt. Botschaften von Sonja an die Chefin werden nicht gehört, wahrgenommen – ein typischer Fall von “Totstellen”.
Für Sonja ist es undenkbar, sich aus der Fessel der Chefin zu befreien. Sie könnte ihren Job verlieren. Und damit die finanzielle Unterstützung für ihre Kinder vernachlässigen. Und es könnte auch ihr Team in Mitleidenschaft ziehen, sie hat ja auch eine Verantwortung für die. No way, einfach blockiert. Keine gangbare Lösung in Sicht.
Wir haben miteinander intensiv nachgeforscht, was mit ihr passiert, wenn sie weiter in diesem Zustand verharrt – eine magische Coaching-Intervention. Und dann hat sich Sonja zurückgezogen – zwei Wochen Ferien auf einer griechischen Insel, ganz alleine mit viel Zeit, ihren innersten Gedanken nachzuhängen. Am Montag nach den Ferien kommt ein Telefonanruf von ihr: Fernando, ich habe gekündigt. Ich denke: Aha, es geht doch! Und am Dienstag schaltet die Chefin ein Inserat für einen Außendienstmitarbeiter, ein Inserat für einen Produktmanager und ein Inserat für einen Teamleader mit Trainingserfahrung.
Sie brauchen also drei Mitarbeiter für das Pensum, das Sonja vorher alleine gestemmt hat. Dies ist heilsam für sie. Sonja braucht sich kein schlechtes Gewissen zu machen, dass sie die Chefin im Stich gelassen hat. Sie ist geheilt, sehr wahrscheinlich für ihr ganzes Leben.
Ursachen, warum Menschen nicht NEIN sagen
Was hindert uns daran, NEIN zu sagen? Es gibt viele Gründe, JA zu sagen. Und die übertönen meist auch die leise innere Stimme, die ein NEIN flüstert.
Bei mir ist es so, dass ich mich oft – wirklich oft – dabei ertappe, JA zu sagen. Vor allem, wenn jemand zu mir kommt, um mir eine interessante, herausfordernde Fragestellung zu unterbreiten. Das Neue fasziniert mich regelrecht, zieht mich in seinen Bann. Ich hasse Routine. Beides gibt dem JA gehörig Schub.
Und irgendwann frage ich mich, wieso hast du da JA gesagt?
Ja, ich habe in dieser Zeit gelernt. Und einige meiner inzwischen grauen Haare kommen aus diesem Lernprozess. Manchmal habe ich den Eindruck, das ist Teil meiner Lebensproblematik. Also es kuriert sich nicht aus, sondern ich muss weiterhin wachsam bleiben.
Bei anderen Menschen beobachte ich, dass sie gerne helfen, unterstützen. Das ist Teil ihrer Lebensaufgabe. Und sie bieten ihre Hilfe bereitwillig an, wo sie nur können. En “liebe Siech”, hören wir dann. Diese Wertschätzung ist ein spannender Treiber, der sie zu einem unreflektierten JA drängt.
Wieder andere Menschen lieben große Herausforderungen. Es kann nicht hoch genug sein, das Ziel. Sie sind oft die einzigen, die sowas in ihrem Umfeld schaffen. Und sie werden beklatscht, weil sie so erfolgreich sind. Jedoch zu welchem Preis? ALLES-HAT-SEINEN-PREIS! N’est-ce pas?
Und einige Menschen haben den inneren Treiber, die Sache richtig zu machen, wirklich gut. Manchmal eine Herkulesaufgabe, die in der Wirklichkeit praktisch unerreichbar ist.
Insgesamt kann ich zum Ausdruck bringen:
Das JA sagen ist häufig so etwas wie ein Reflex.
Die Anfrage oder der Auftrag kommt – als Reiz – und auf unseren Lippen formt sich unmerklich und augenblicklich, reflexartig das JA. Auch wenn wir noch nicht die ganze Sache verstanden haben. Es passiert einfach. Diesen Reiz-Reflex gilt es auszuschalten, wenn wir mehr NEIN sagen müssten.
4 Tipps, um das Nein sagen zu erlernen
In der Regel gibt es in unserem Lebens- und Arbeitsumfeld keine Menschen mit der Aufgabe, mich vor einem Zuviel zu schützen. Das ist voll und ganz meine eigene Aufgabe! Da muss ich schon selber “a d Säck”.
Nein sagen, sich abgrenzen, ist nicht nur mein Recht, sondern meine Pflicht. Vor allem, wenn es darum geht, meine Leistungsfähigkeit zu erhalten um nicht in einer Erschöpfung zu landen. Unsere heutige Burn-Out-Rate zeigt auf diesen Missstand hin. Da ist Handeln angesagt!
Ein NEIN sagen birgt hiermit auch eine Portion Magie in sich. Das Nein sagen an und für sich ist keine Hexerei. Sich dabei aber vollwertig zu fühlen, ohne schlechtes Gewissen, das ist die Magie!
Es gibt heutzutage ganz viele Tipps, wie man NEIN sagen kann oder soll. Ich verzichte auf diese Tipps, weil sie oft zu kurz greifen. Sie sind selten eine konkrete Hilfe für hochsensitive Menschen.
Folgende Aspekte können dich jedoch unterstützen, diese Magie zu leben und danach zu handeln:
- Erkenne den Reiz-Reflex-Mechanismus hinter deinem JA sagen.
- Wenn der Reiz kommt, halte ein. Atme ein paar Mal tief durch, bis tief in deine Lungenspitzen.
- Vermeide ein sofortiges JA – handle eine Antwort auf die Anfrage aus, die verzögert stattfindet. (z. B. ich muss mir dazu noch Gedanken machen, muss darüber schlafen, muss mir das tiefer anschauen – du erhältst Bescheid bis xy …)
- Spüre in dich hinein, was die Anfrage mit dir macht. Und achte auf die Impulse deiner Intuition – ohne Gedankenkarussell. Und dann gibst du entsprechend Antwort.
Dieses Vorgehen hilft dir, die Beziehung zu deinem Vis-à-vis aufrecht zu erhalten und sogar noch zu vertiefen (Bonding). Meist steigt auch die Achtung vor dir. Und du legst wieder einen Zacken zu an einem gesunden Selbstwert.
Fernando S. Christian, LifeDesign Studio
Netzwerkmitglied für 1588 Cudrefin (CH), www.lifedesign.studio
Zusätzliche Quellen: